Dass über Geschmäcker nicht gestritten werden sollte, ist den meisten bekannt, auch wenn sie es trotzdem tun. Weitgehend unbekannt ist aber auch, dass über Wahrnehmung und damit Sichtweisen ebenso nicht gestritten werden kann.

Denn jeder Mensch nimmt aufgrund seiner eigenen Erfahrungen und Persönlichkeit die Welt anders wahr. Was für den einen schön erscheint, mag für den anderen ganz anders aussehen. Es ist daher wichtig, sich bewusst zu machen, dass unterschiedliche Sichtweisen nicht in einen objektiven Wahrheitsanspruch überführt werden können. Stattdessen sollten wir versuchen, die Vielfalt an Perspektiven als Bereicherung zu sehen und aus den verschiedenen Blickwinkeln zu lernen.

1. Jeder hat seine eigene Wahrnehmung

Konstruktivismus ist eine erkenntnistheoretische Richtung, die davon ausgeht, dass Wissen und Realität nicht objektiv gegeben sind, sondern von Subjekten aktiv konstruiert werden.

Jede Wahrnehmung ist die Wahrnehmung eines Beobachters. Eine objektive Wahrnehmung, die alles Details erfasst und nichts weglässt, gibt es nicht. Es ist daher klar, dass zwei Menschen, die dasselbe beobachten, hinterher völlig unterschiedliche Wahrnehmungen haben kann.

Das liegt daran, dass unsere Wahrnehmung stark von unseren individuellen Erfahrungen, Erwartungen und Emotionen beeinflusst wird. Jeder Beobachter filtert und interpretiert die Informationen auf seine eigene Art und Weise. Selbst wenn zwei Menschen sich gemeinsam etwas anschauen, kann ihr persönlicher Hintergrund dazu führen, dass sie ganz unterschiedliche Dinge sehen und empfinden. So entsteht aus der subjektiven Wahrnehmung eines jeden Beobachters eine Vielzahl an verschiedenen Realitäten, die alle gleichzeitig existieren können.

Eine Mediatorin oder ein Mediator werden daher allen Beteiligten nahe bringen, dass unterschiedliche Sichtweisen der Normallfall und nicht die Ausnahme ist. Insbesondere es keine Böswilligkeit oder Lüge ist, wenn die/der andere Beteiligte irgendetwas anders wahrgenommen hat.

2. Wie geht Mediation mit den unterschiedlichen Sichtweisen um?

Es wird nicht versucht, eine objektive Wahrheit zu finden, sondern die unterschiedlichen Perspektiven zu verstehen und zu respektieren. Ein Mediator, der den konstruktivistischen Ansatz verfolgt, interessiert sich nicht dafür, was die Realität ist, sondern dafür, wie die Medianden ihre Realität wahrnehmen und konstruieren. Die Idee ist, dass die Wahrnehmungen und Zuschreibungen von Bedeutungen nicht immer der Wirklichkeit entsprechen und dass die Wirklichkeiten der Medianden voneinander abweichen können. Mediatoren suchen nach Erklärungsansätzen für unterschiedliche Sichtweisen und Ansatzpunkte finden, warum diese so unterschiedlich ausfallen. Dies kann dazu beitragen, Gemeinsamkeiten zu finden oder zumindest die Unterschiedlichkeit der Sichtweisen zu akzeptieren.

3. Interessen nicht Sichtweisen sind entscheidend

Die Vielfalt an Sichtweisen ist ein faszinierendes Element in der Mediation, wo unterschiedliche Perspektiven aufeinandertreffen. In der Mediation sind tatsächlich die Interessen der Parteien von zentraler Bedeutung. Es geht darum, die zugrunde liegenden Bedürfnisse, Wünsche und Ziele zu verstehen, die hinter den Positionen der Medianden stehen. Der konstruktivistische Ansatz kann dabei helfen, diese Interessen zu erkennen, indem er die Art und Weise beleuchtet, wie die Parteien ihre Realität wahrnehmen und interpretieren.

Die Interessen leiten sich oft aus den individuellen Sichtweisen ab, aber sie sind nicht dasselbe. Während Sichtweisen die Art und Weise beschreiben, wie eine Person eine Situation sieht, beziehen sich Interessen auf das, was sie in einer Situation erreichen oder bewahren möchte. Ein Mediator muss daher in der Lage sein, zwischen den Sichtweisen der Parteien zu navigieren, um ihre wahren Interessen zu identifizieren und zu adressieren.

Durch das Verständnis der Interessen können Mediator_innen effektiver dabei helfen, Lösungen zu finden, die für alle Parteien akzeptabel sind. Dieser Ansatz fördert eine win-win-Situation, bei der die Lösung auf den Interessen aller Beteiligten basiert, anstatt nur einen Kompromiss zwischen den unterschiedlichen Standpunkten zu finden.