Ein Aha-Erlebnis beim Blick in die Berufsordnung der Anwälte
Wo steht denn das? wird hier auf der Site der Integrierten Mediation gefragt. Mit „das“ ist der folgende Text gemeint: „Als unabhängiger Berater und Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten hat der Rechtsanwalt seine Mandanten vor Rechtsverlusten zu schützen, rechtsgestaltend, konfliktvermeidend und streitschlichtend zu begleiten, vor Fehlentscheidungen durch Gerichte und Behörden zu bewahren und gegen verfassungswidrige Beeinträchtigung und staatliche Machtüberschreitung zu sichern.“
Richtig! Das ist § 1 abs, 3 BORA, Berufsordnung für Rechtsanwälte. Ja Anwälte sollen (auch) konfliktvermeidend und streitschlichtend tätig sein. Ich hatte das Thema bereits einmal hier auf meinem Blog angesprochen. Leider fiel der erste Kommentar hierzu nicht gerade positiv aus. Nein Anwälte müssen nicht alle zum Mediator mutieren. Was sie aber lernen sollten (und aufgrund der Vorschrift der BORA eigentlich auch müssen) ist interessengerchtes Verhandeln für ihre Mandanten.
Leider wird die Kunst des integrativen Verhandelns an der Universität nicht gelehrt und die meisten Anwälte gehen davon aus, dass ihre intuitive Art des Verhandelns, nämlich das distributive Verhandeln (=Feilschen) die richtige Art ist. Das kommt daher, dass (zumindest der zivilrechtliche) Rechtsstreit ein reines Nullsummenspiel ist, der Gewinn des einen entspricht immer dem Verlust des anderen. Das Gericht ist an die Anträge gebunden und kann keine Zusätzlichen Verhandlungsgegenstände einbringen, die eine Win-Win-Lösung erlauben könnten.
So werden von den Juristen in aller Regel klassische Kompromisse produziert (wenn es
überhaupt zum Vergleich kommt). Das nachfolgende Schaubild verdeutlicht es: Kompromisse und das Vergleichsverhandeln der (meisten) Anwälte und Richter findet ausschließlich auf der roten Linie statt, das ist die Nullsummenlinie.
Der Bereich jenseits dieser Linie führt zu Ergebnissen, bei denen beide Parteien gewinnen. Dorthin kann man aber nur kommen, wenn man den Bereich des (einen) Anspruchs verlässt und weitere Punkte einbezieht. Das lernen die Juristen aber nicht auf der Uni. Für sie besteht die Welt aus begrenzten Ressourcen und damit nur aus Verteilungsproblemen.
Deshalb sind eigentlich die Anwälte aufgrund ihrer Berufsordnung verpflichtet, auch die integrative Verhandlung in ihr Repertoire aufzunehmen, weil sie ansonsten eben nicht streitvermeidend und streitschlichtend tätig sind.
Leider haben wohl die meisten Anwälte diesen Passus in ihrer Berufsordnung entweder nicht gelesen oder nicht verinnerlicht und verstoßen daher ständig gegen die Berufsordnung. Sie haben nur das Glück, dass die Wächter über die Einhaltung der Berufsordnung auch Juristen sind und daher die Angelegenheit aus dem gleichen Blickwinkel sehen.