Anwaltskanzlei in virtuellen Zeiten
Ging früher der Streit um die Größe des Kanzleischilds immer darum, dass die bösen Anwälte ihre Schilder nach Meinung der Kammern zu groß dimensionierten, wächst heute die Zahl der Anwälte, die überhaupt kein kanzleischild mehr wollen oder benötigen. Auch hier sind die Kammern und Anwaltsgerichte wieder tätig, bis ihnen wohl irgendwann einmal wieder ein Bundesverfassungsgericht sagen muss, dass sie den Anschluss an die modernen Zeiten verschlafen haben.
§ 27 BRAO verlangt lediglich, dass ein Rechtsanwalt eine Kanzlei einzurichten und zu unterhalten habe. Die Vorschrift definiert nicht, was unter dem Begriff Kanzlei zu verstehen ist. Konkretisiert wird dies durch § 5 BORA: „Der Rechtsanwalt ist verpflichtet, die für seine Berufsausübung erforderlichen sachlichen, personellen und organisatorischen Voraussetzungen in Kanzlei und Zweigstelle vorzuhalten.“ Hm! Sind wir jetzt schlauer?
Bereits am 24.07.2007 (vor fast 5 Jahren!) hat das Anwaltsgericht in München entschieden, dass für den Rechtsanwalt die Anbringung eines Praxisschildes sowie die Veranlassung eines Eintrags in das örtliche Telefonbuch nicht mehr zu den Anforderungen zur Einrichtung einer Kanzlei zählen (2 AnwG 46/05 – X EV 54/05, BRAK-Mitt. 2007, 269). nach dieser Entscheidung sind die Anforderungen, die an die Einrichtung einer Kanzlei zu stellen sind, auch an der gesellschaftlichen und technischen Entwicklung zu messen. Die Anbringung eines Praxisschildes sei daher kein zwingender Bestandteil einer Kanzlei. Offenbar ist man in München der Zeit voraus. Denn das Anwaltsgericht Karlsruhe hat dann in einem Beschluss vom 18.07.2008 (AG 1/2008 – I 1/2008, BRAK-Mitt. 2008 225) , also ein Jahr später, entschieden, dass (zumindest in Karlsruhe und Umgebung) die Anbringung eines Kanzleischildes keineswegs durch die gesellschaftliche und technische Entwicklung überholt und nicht mehr zeitgemäß sei.Es müsse nicht nur für die Rechtssuchenden, sondern auch für die Gerichte und Behörden eine räumlich definierte Stelle geben, an die für den Rechtsanwalt bestimmte Zustellungen, Mitteilungen und Nachrichten gerichtet werden könnten. Eine Kanzlei müsse nicht nur vorhanden, sondern auch räumlich auffindbar sein. Ein Praxisschild müsse so gestaltet und angebracht sein, dass jedermann auch ohne Zugriff auf elektronische Kommunikationsmittel unschwer feststellen könne, wie er die Kanzleiräume erreichen könne.
Aha! Ob ein Kanzleischild notwendig ist, Zustellungen vorzunehmen, wage ich zu bezweifeln (oder auch, die Zusteller finden die Kanzlei trotz Schild nicht). Wer nicht weiß, wo sich die Kanzlei befindet, findet sie auch mit Schild nicht (oder woher weiß der Rechtssuchende, in welcher Straße sich die Kanzlei befindet?). Und: Wie werden eigentlich Zustellungen an den Normalbürger zugestellt, der kein Schild am Haus sondern allenfalls an der Klingel, am Briefkasten und an der Wohnung hat?
Und so rauscht denn die Entwicklung (mal wieder) an den Helden der Rechtsanwaltskammern vorbei.